Vier Generationen im Birgli: Chinderhus und Pflegeheim unter einem Dach
Generationenwohnen , Generationenverbindende Betreuung , Gesundheit, Sport & Bewegung
18. Juni 2012
Im Birgli in Brienz sind mit Alten- und Pflegeheim inkl. Chinderhuus vier Generationen unter einem Dach. Der Altersunterschied ist immens. Dennoch begegnen sie sich voller Respekt und haben Freude miteinander.

Im Alten- und Pflegeheim Birgli in Brienz sind vier Generationen unter einem Dach
Der Altersunterschied ist immens: Mehr als 90 Lebensjahre trennen die jungen und alten Bewohner des Birgli in Brienz, Kanton Bern. Dennoch begegnen sie sich voller Respekt und haben Freude miteinander. Das 1954 gebaute Haus liegt in beeindruckender Kulisse am Brienzersee mit Blick auf ein nah gelegenes Skigebiet. Es ist ein offenes Haus, was sich auch in der hellen Innenarchitektur widerspiegelt. Es gibt keine dunklen Gänge – die einzelnen Etagen sind nach einer Seite hin offen wie in einem Atrium. 40 Menschen leben in modern eingerichteten Zimmern und werden rund um die Uhr professionell betreut. Das Durchschnittsalter im Haus beträgt 87 Jahre, ein grosser Teil der BewohnerInnen ist über 90. Deshalb ist das Birgli auch ein Alters- und Pflegeheim.
Jung und Alt zusammen
Seit 2009 ist die Brienzer Kindertagesstätte ins Birgli eingezogen. Das Chinderhus gehört jetzt zum Leben im Haus. Es ergeben sich viele Begegnungspunkte für Jung und Alt. So finden regelmässig gemeinsame Aktivitäten bei verschiedenen Festivitäten im Birgli statt. Z.B. bei den Frühlings- und Herbstfesten oder beim jährlichen Generationenfest. Hier ist das Publikum bunt durchmischt, es kommen die Angehörigen und Besucher aus Brienz sind ebenfalls willkommen. Die Kinder werden dann in den Flügel der Älteren „gelenkt“. Wenn sie sich ein Dessert holen dürfen oder am Hotdog-Stand einen Überraschungspreis gewonnen haben. So verlieren sie ihre Scheu und trauen sich in den Bereich der „Grossen“. Weiterer Kontakt entsteht beim Guetzli backen in der Weihnachtszeit, beim Ostereier färben, beim gemeinsamen Singen oder wenn ein bis zwei Erwachsene zu Besuch ins Chinderhus kommen. Diese Begegnungen werden behutsam entwickelt und erweitert. Angedacht ist bereits ein regelmässiger Gegenbesuch der Kleinen im Altenheim.
Mit Schwung bleiben Jung und Alt in Bewegung
Bewegung und Sport haben ihren festen Platz im Birgli. Beliebt sind die Tanznachmittage die drei Mal im Jahr stattfinden – sogar „auf hoher See“ – wenn es mit einem Schiff auf den Brienzersee geht. Das Rhythmusempfinden ist auch bei Hochaltrigen oft noch gut ausgeprägt. Vorsichtige Tanzschritte, evtl. unterstützend geführt, schulen das Gleichgewicht und sind eine sinnvolle Koordinationsübung. Im Birgli passieren wenige Stürze mit grösseren Folgen. Der Tanz leistet dazu sicher einen Beitrag. Eine wesentliche Ursache ist aber die Turnstunde.
Generationen-Turnen mit dem Bären
Schon seit einigen Jahren turnen die Erwachsenen wöchentlich unter der Leitung von Petra Brodwolf. Die Übungen dazu hat sie auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Hochaltrigen angepasst. Der Altersschnitt der Gruppe liegt um die 90 Jahre. Einige Teilnehmer sitzen im Rollstuhl, viele sind von Alterskrankheiten gezeichnet.
Seit einem Jahr gibt es das intergenerative Bärenturnen. Dabei nehmen drei Kinder aus der Tagesstätte einmal im Monat für 30 Minuten an der wöchentlichen Bewegungsstunde teil. Petra Brodwolf leitet diese Stunde mit einem ganzheitlichen Ansatz. Ihr ausformuliertes Stundenkonzept ist klar in aufeinander aufbauende Punkte gegliedert:
- Begrüssung
- Lied
- Aufwärm- und „Anregungs“–Phase
- Vertiefungsphase
- Übungen mit einem Turngerät
- Abschluss
- Verabschiedung
In weiteren elf Punkten ist das aufgeführt was ihr wichtig ist: So z.B. dass sie auf jeden Einzelnen individuell eingeht, jede und jeder gleichsam wichtig ist, dass sie Anregungen und Wünsche der TeilnehmerInnen gerne aufgreift und das Übungen durchaus auch anstrengen dürfen.
Ich bin zu Gast im Bärenturnen. Der Boden ist liebevoll dekoriert mit einem Tuch auf dem Blumen und Blüten aber auch Stofftiere liegen. Nach einigen Minuten sind die Kinder „aufgetaut“ und bewegen sich ungezwungen zwischen den Erwachsenen. Bei Ballspielen fällt auf, dass die Differenzierungsfähigkeit von Alt und Jung – das Vermögen, die eigene Kraft anforderungsgemäss zu steuern – in beiden Altersgruppen einen ähnliches Mass hat. Beide können miteinander diese Koordination (wieder) lernen. Wurf- und Rollspiele mit einem Soft- oder aufblasbaren Ball oder anderen weichen Gegenständen sind hierfür gut geeignet. Fussballspielen im Sitzen ist bei allen sehr beliebt und manche Erwachsene freuen sich darauf schon seit Beginn der Stunde. Das Arsenal der Turngeräte ist bunt und fantasievoll: Hirsesäckchen und Luftballons finden ebenso Einsatz wie Zeitungen, Hüte oder Wäscheklammern zur Kräftigung der Finger- und Unterarmmuskulatur. Die weichen Kuscheltiere, die dann herum gereicht werden, provozieren nicht nur haptische und taktile Reize, sie werden auch zum kognitiven Training eingesetzt: Es sollen die Tierlaute und arttypische Bewegungen imitiert oder erst einmal nur die Tiere bestimmt werden. Oft sind Übungen in kleine Geschichten oder ein Thema eingebaut. Damit werden sie besser erfassbar und fördern sowohl physische als auch kognitive Prozesse.
Gemeinsame Bewegung – doppelter Gewinn
Der Gewinn bei den Älteren beim gemeinsamen Spiel war deutlich zu erleben: Die Turner/innen waren gelöster, gaben sich mehr Mühe und hatten offensichtlich mehr Spass. „Mit den Kindern sind einige Teilnehmer viel aufgewachter“ bestätigte die Leiterin. Wie aber sieht es für die Kinder aus? „Am liebsten würden jeweils fast alle Kinder zu den Aktivitäten mitkommen“ meint die Betreuerin Fabienne Rohrer. Im Zusammensein mit den Erwachsenen wird bei den Kindern Sozialkompetenz entwickelt. Sie lernen, die Bedürfnisse der anderen zu erkennen und auch darauf eingehen zu können. Mittlerweile sind die Jungen und die Älteren miteinander vertraut geworden – es hat sich eine gesunde Normalität eingestellt. Die Kinder geniessen die Aufmerksamkeit und Zuwendung, welche sie von den BewohnerInnen erhalten. Sie bereichert ihren Chinderhusalltag. Deshalb gewinnen Junge und Ältere gleichermassen vom Zusammenleben.
Zwei BewohnerInnen haben selbst Urgrosskinder im Chinderhus. Vielleicht werden es in Zukunft noch mehr werden und das Bärenturnen bekommt auch Nachwuchs.
Links
Ich bedanke mich bei Familie Heidi und Rene Rohr, die das Birgli seit 23 Jahren leiten und die Teilnahme am Bärenturnen ermöglicht haben. Vielen Dank an die Turnleiterin Petra Brodwolf, die Kinästhetik-Lehrerin im Birgli, Agnes Streich, sowie Fabienne Rohrer vom Chinderhus.
Ein Blogbeitrag von Michael Hausammann
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