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Gender – ein unterschätzter Faktor in Generationenprojekten

Ein Beitrag von Remo Ryser

Wissenschaft & Generationenforschung

7. November 2018

In der Ausgestaltung der Generationenbeziehungen kommt dem Aspekt Geschlecht neben anderen Wirkfaktoren eine wichtige Bedeutung zu: Vieles, was die Ausgestaltung der Generationenbeziehungen betrifft, ist auch mit den Lebenswirklichkeiten der Geschlechter und den damit verbundenen Wertvorstellungen bezüglich Geschlechterrollen verbunden.

Gruppe von Menschen

Wie gehen Generationenprojekte mit Geschlechterfragen um? Wie weit gelingt es, allen Geschlechtern die Möglichkeit zu eröffnen, sich in der intergenerationellen Freiwilligenarbeit zu engagieren? Das Schweiz. Institut für Männer- und Geschlechterfragen SIMG wollte mehr darüber erfahren und führte eine Umfrage durch. Denn es ist davon überzeugt: Intergenerationale Solidarität in Familie und Gesellschaft gelingt, wenn Frauen und Männern bzw. alle Geschlechter paritätisch daran mitwirken. Genaueres zur Umfrage finden Sie am Ende des Beitrags.

Gender als Faktor in Generationenprojekten: Die Ergebnisse im Überblick

  • 95% der befragten Projekte wollen beide Geschlechter erreichen. Insgesamt wird der Faktor Geschlecht gemäss Eigenbeurteilung sehr unterschiedlich stark berücksichtigt. Etwa die Hälfte gewichtet diesen Aspekt eher stark, ein Drittel hingegen wenig bis überhaupt nicht. Auffällig ist, dass es sowohl in der Befragung wie auch auf Plattform intergeneration.ch kaum Projekte gibt, welche sich spezifisch an Männer, Frauen oder andere Geschlechtsidentitäten richten und sich explizit darauf spezialisieren. Einem beträchtlichen Anteil der befragten Projekte gelingt es nicht, beide Geschlechter in ähnlichem Masse zur Mitwirkung zu gewinnen. Dies betrifft sowohl Freiwillige wie auch Nutzer/innen. Eine besondere Herausforderung stellt insbesondere die Aktivierung von männlichen Freiwilligen dar. Rund ein Drittel der Projektverantwortlichen kann konkrete Hürden für ein bestimmtes Geschlecht in ihrem Projekt benennen. Die Mehrheit nimmt jedoch keine Stolpersteine wahr.
  • Rund zwei Drittel der Projektverantwortlichen erachten es als relativ bis sehr wichtig, die Genderperspektive mit einzubeziehen. Der Einbezug des Faktors Geschlecht im Projekt geschieht jedoch in den wenigsten Fällen systematisch. Beispielsweise werden in 2 von 3 Projektteams die eigenen Geschlechterbilder und deren Auswirkungen auf die Projektarbeit nicht reflektiert und besprochen.
  • Der Grad an Knowhow zu genderreflektierter Projektarbeit wird in Organisationen, die Generationenprojekte umsetzen, sehr unterschiedlich eingeschätzt. Etwas mehr als ein Drittel der Projektverantwortlichen zeigen sich interessiert an Wegen, die Genderperspektive stärker zu integrieren. Je rund ein Drittel der Befragten wünschen sich Planungs- und Reflexionstools, Praxisbeispiele und Erfahrungsaustausch rund um genderreflektierte Projektarbeit.

Schlussfolgerungen

Gender – ein unterschätzter Faktor in Generationenprojekten

Die Befragungsresultate zeigen, dass die Genderperspektive in der Mehrheit der Generationenprojekten zwar als fachlich relevant, jedoch nicht als prioritär angesehen wird. Es besteht in den meisten Fällen kein klares Bild darüber, welchen Nutzen eine vermehrte oder differenziertere Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bringen könnte. Erst über das Gespräch werden Zusammenhänge erkannt, eine genderbezogene Überprüfung bzw. Weiterentwicklung des Projekts als interessant und weiterführend wahrgenommen. Beispielsweise dann, wenn die Diskrepanz zwischen Auftrag bzw. Anspruch, die Geschlechter in ähnlichem Masse zu erreichen, und der Realität, dass insbesondere die Aktivierung von männlichen Freiwilligen schwierig ist, bewusst wird.

Bewusster Umgang mit Genderbrillen – ein brachliegender Mehrwert

Die Umfrage bestätigt, dass eine Mehrheit der Generationenprojekten von Frauen getragen werden, sowohl was bezahlte wie auch unbezahlte Projektarbeiten anbelangt. Die Auswirkungen und Einschränkungen, die dies in Bezug auf gendergerechte Angebote mit sich bringt, werden selten reflektiert. In diversen Projekten wird hingegen bei der Rekrutierung darauf geachtet, dass potentielle Freiwillige entsprechend ihren Ressourcen und Kompetenzen eingesetzt und deshalb offen befragt werden. Eine Sensibilität bezüglich unbewusst reproduzierten Rollenstereotypen kann so teilweise vorgebeugt werden. Eine bewusste Auseinandersetzung mit solchen Genderbrillen findet jedoch kaum statt.

Nächste Schritte

Genderreflektierte Projektarbeit als Qualitätsmerkmal – auch von Generationenprojekten

Die als Vorprojekt konzipierte Befragung zeigt: Projektverantwortliche wünschen sich Unterstützung in der Reflexion von Genderfragen in Generationenprojekten – sowohl für sich wie auch für die freiwilligen Mitarbeitenden. Darauf will das SIMG und SGG reagieren und plant als nächsten Schritt, entsprechende Angebote zu entwickeln. Aktuell stehen dabei im Zentrum:

  • Abrufbare Beratungs- und Bildungsangebote: z.B. Projekt-Check-up «Gender», erfahrungsorientierte Gender-Trainings für Projektverantwortliche bzw. Freiwillige
  • Praxishilfen zur genderreflektierten Projektarbeit: z.B. Qualitätsstandards, Themendossiers zum Umgang mit tabubehafteten Genderthemen, Good-Practise-Beispiele

Die Befragung

Leitfragen Wie gehen Generationenprojekte mit Genderfragen im Bereich Planung, Rekrutierung, Umsetzung und Evaluation um?

Inwieweit werden den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, Wertvorstellungen, Bedürfnissen und Motivationslagen der Geschlechter Rechnung getragen?

Zeitraum Die Online-Umfrage und Interviews fanden im Zeitraum von Anfang Mai bis Mitte Juli 2018 statt.
Teilnehmende Alle auf intergeneration.ch eingetragenen aktiven Projekte in der Deutschschweiz wurden per Email mit Link zur Befragung eingeladen. 35 von insgesamt 111 angeschriebenen Projektverantwortlichen haben sich an der Umfrage beteiligt (Rücklaufquote 32%).

Zudem haben sich 7 Projektleiter/innen bereit erklärt, in Interviews vertieft auf ihre Erfahrungen und Herausforderungen einzugehen. Herzlichen Dank.

Auftraggeberin Schweiz. Gemeinnützige Gesellschaft, http://www.sgg-ssup.ch
Umsetzung Schweiz. Institut für Männer- und Geschlechterfragen SIMG, http://www.simg.ch

Das SIMG ist die Fachstelle von männer.ch, dem Schweiz. Dachverband progressiver Männer- und Väterorganisationen, http://www.maenner.ch

Links

  • Hier können Sie sich eintragen, wenn Sie up-to-date bleiben wollen und von Angeboten aus erster Hand erfahren möchten, die aus dem Vorprojekt entstehen werden.
  • Hier finden Sie die detaillierten Umfrageresultate.

Remo Ryser

Eine Situationsanalyse von Remo Ryser, Schweiz. Institut für Männer- und Geschlechterfragen SIMG. Der publizierte Blogbeitrag ist als Diskussionsbeitrag zu sehen, der sich nicht mit der Meinung der Redaktion zu decken braucht.

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