Politische Differenzen zwischen den Generationen
Ein Beitrag von Anne-Sophie Keller
Wissenschaft & Generationenforschung , Generationen-Politik & -Dialog , Partizipation, Integration & Inklusion
16. Januar 2024
Das Bild der progressiven Jugend und konservativen Älteren hält sich hartnäckig. Doch so unüberwindbar, wie der Generationengraben scheint, ist er nicht.
Die Jungen kleben sich auf die Strasse, während die Alten über das Gendern wettern: Diese stereotypischen Zuschreibungen haben gerade im Hinblick auf Wahlen Hochkonjunktur. Doch ticken junge und alte Menschen politisch wirklich so unterschiedlich? Ist der Generationengraben so unüberwindbar, wie es in den Medien den Anschein macht?
Lukas Golder und Laura Salathe vom Forschungsinstitut GfS Bern gingen dieser Frage für das Dossier Altersvorsorge des Schweizer Monat nach. Der politische Generationengraben sei überbewertet, so das Verdikt. Von 133 analysierten Volksabstimmungen war nur bei 98 die Fallzahl gross genug, um Auswertungen zum Abstimmungsverhalten nach Alter durchzuführen. Davon waren nur in 13 Fällen der Generationengraben grösser als 20 Prozentpunkte. Sechsmal resultierte dabei trotz grosser Unterschiede zwischen den über 60-Jährigen und den unter 30-Jährigen die gleiche Mehrheitsentscheidung.
Und dennoch lassen sich gewisse Tendenzen erkennen: Junge stimmen tendenziell eher für Umweltanliegen. Laut VOX-Abstimmungsanalysen haben 62 Prozent der 18- bis 29-Jährigen für das neue CO2-Gesetz gestimmt, jedoch nur 41 Prozent der Personen über 70. Auch bei Genderthemen zeigt sich eine Lücke: So sagten 80 Prozent der Wähler:innen unter 30 Ja zur Ehe für alle, aber nur 40 Prozent der Ü70-Fraktion.
Je älter, desto konservativer – oder doch nicht?
Doch so links sind die Jungen nicht alle: 2019 wählten 22 Prozent der 18- bis 34-Jährigen die SVP – in den anderen Altersgruppen waren es 26 bis 28 Prozent. Dies ist umso erstaunlicher, als dass die stärkste Schweizer Partei eine Strategie verfolgt, die sich tendenziell eher an ältere Wähler:innen richtet: konservative Inhalte, wenig Diversität, usw. Ein Grund für die jungen SVP-Wähler:innen kann jedoch auch sein, dass junge Generationen eher zu polarisierenden Parteien tendieren.
Dass man im Alter automatisch konservativer wird, ist übrigens nicht belegt – auch wenn sich diese Annahme hartnäckig hält. „Folgt man Soziologen und Psychologen, dann bleiben Altersgruppen generell ihren politischen und weltanschaulichen Präferenzen ihr Leben lang überraschend treu”, schreibt etwa Spiegel-Autor Frank Patalong. Das Denken und Verhalten einer Kohorte sei primär von Kultur und Zeitgeist unserer Sozialisierung geprägt. „Und das bleibt uns zumindest im statistischen Schnitt auch erhalten.”
Eine Ausnahme gibt es jedoch mit den Babyboomern. Mit den 68er-Studentenprotesten ebneten sie den Weg für Themen wie Umwelt oder Feminismus. Der Zeitgeist war links geprägt; eine konservative Denkweise nicht salonfähig. Wenn sich diese Altersgruppe heute vermehrt konservativ äussert, dann also nicht, weil sich ihre Gesinnung gewandelt hat, sondern weil sie diese heute schlicht offener zeigt.
Auch die University of Chicago bestätigt in einer Studie, dass politische Einstellungen auf lange Sicht bemerkenswert stabil sind, hält aber eine spannende Ergänzung fest. „In den Fällen, in denen sich die politischen Einstellungen im Laufe des Lebens ändern, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Liberale Konservative werden, grösser.”
Wenn man also bedenkt, dass sich die Gesellschaft immer weiterentwickelt, während die Werte der Menschen stabil bleiben, dann wirken ältere Menschen vielleicht einfach konservativer: Wer früher als links galt, gilt nach heutigen Kriterien möglicherweise nicht mehr unbedingt als links.
Andere Gräben, andere Baustellen
Während der Generationengraben also kleiner ist als angenommen, sind andere Gräben im Stimmverhalten der Schweizer:innen deutlicher erkennbar. Sean Müller von der Universität Lausanne stellt fest, dass sich Stadt und Land in den letzten 30 Jahren immer mehr auseinander bewegt haben. Dies zeige sich zum Beispiel bei politisch-wirtschaftlichen Fragen wie der europäischen Integration oder bei gesellschaftspolitischen Abstimmungen wie der Strafnorm gegen Rassismus. Diese Differenzen hätten sich in den letzten Jahren verfestigt und die politische Landschaft verändert, so der Politologe gegenüber dem SRF. Die Parteien seien dadurch stärker auseinandergedriftet, was Kompromisse erschwere.
Ein Blick zurück in die Vox-Analysen der Abstimmungen zeigt weitere Gräben: Personen ohne nachobligatorische Bildung waren die einzige untersuchte soziodemografische Untergruppe, die das Covid-19-Gesetz mehrheitlich abgelehnt hat. Auch der Geschlechtergraben lässt sich immer wieder feststellen. Eine kürzlich publizierte Analyse des Forschungsinstitutes Sotomo im Auftrag der NZZ am Sonntag zeigt, dass dieser Graben wächst: 2010 bezeichneten sich 35 Prozent der 18- bis 29-jährigen Frauen als links. Heute sind es mehr als die Hälfte, 52 Prozent. Bei den Männern stieg die Zahl derer, die sich als rechts bezeichnen, von 29 auf 43 Prozent. Als Hauptgrund für diese Entwicklung wird die Frauenbewegung angegeben.
In irgendeinem Graben trifft man sich
Riskiert die Schweiz eine Spaltung angesichts der vielen Differenzen? Sean Müller verneint: Die vielen Gräben überkreuzen sich gegenseitig und schwächen sich somit ab. Das mache die Stabilität des Schweizer Politiksystems aus.
Auch Lucas Leemann vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich bestätigt dies auf Anfrage: „Die Stimmbürger:innen sind divers, haben unterschiedliche Merkmale und gehören unterschiedlichen Gruppierungen an. Manchmal gewinnt man, manchmal nicht.” Er finde unterschiedliche Ansichten in den meisten Fällen sehr gesund: „Reibung und Diskussionen muss es geben, das macht unsere Demokratie aus.” Viel eher würde es ihn beunruhigen, wenn plötzlich alle Parteien einer Meinung wären. Auch die vermeintliche Spaltung oder Polarisierung der Gesellschaft sieht er etwas differenzierter: „Wir kommen aus langen Phasen der politischen Stabilität. Gewisse Themen nehmen durchaus wieder Fahrt auf. Aber getrennte Gesangs- und Turnvereine, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Ortschaften existierten, gibt es heute beispielsweise nicht mehr.”
Schlussendlich kann gesagt werden, dass auch wenn die Generationen unterschiedlich politisieren, die Differenzen zwischen Jung und Alt nicht den ausgeprägtesten politischen Graben darstellen. Der Generationengraben mag gross erscheinen, in Realität ist dieser jedoch kleiner als angenommen und alles andere als unüberwindbar. Differenzen, Gräben und Reibungen sind nach Lucas Leeman, die Faktoren, die dem politischen System ein gewisses Mass an Stabilität verleihen.
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