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Ungenutztes Potenzial in der Leseförderung

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen viel Potenzial für eine Leseförderung ausserhalb von Elternhaus und Schule. Dabei werden zugleich Begegnungen zwischen verschiedenen Generationen möglich. Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Caroline Villiger im Interview.

Doing homework with mother

Foto: Studie Lesen im Tandem (LiT) 

Forschungsergebnisse zeigen Potenzial für Leseförderung ausserhalb von Elternhaus und Schule

Die Leseförderung ist stärker in den Fokus gerückt seit Schweizer Kinder bei der Lesekompetenz eher schlecht abschneiden. Heute findet Leseförderung meist in Familie oder Schule statt. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen jedoch noch viel ungenutztes Potenzial für eine Leseförderung ausserhalb von Elternhaus und Schule. Dabei werden zugleich Begegnungen zwischen verschiedenen Generationen möglich.

Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Caroline Villiger gibt im Interview mit Intergeneration einige interessante Einblicke in ihre Forschungsergebnisse zur Lesekompetenz. Überdies bietet sie neue Ideen wie leseschwache Kinder bei älteren Lesefreudigen wertvolle Unterstützung neben Familie und Schule finden können.

 

Der Schweizer Vorlesetag bietet am 27. Mai 2020 eine passende Gelegenheit, praktische Erfahrungen mit intergenerativen Leseprojekten ausserhalb der Familien zu sammeln. Der Veranstalter des Vorlesetags SIKJM (Schweizerisches Institut für Kinder und Jugendmedien) und Intergeneration präsentieren erstmals dafür das entsprechende Angebot “Generationenverbindende Vorleseaktionen“, insbesondere auch für Betreuungseinrichtungen von Jung und Alt.

 

Frau Professor Villiger, die Pisa-Studie 2018 zeigt, dass die Lesekompetenz von Schweizer Schülerinnen und Schüler nochmals leicht gesunken ist. Hat Sie das erstaunt?

Ein wenig schon. Denn nach dem Pisa-Schock im Jahr 2000 wurden zahlreiche Massnahmen ergriffen, um die Lesekompetenz zu verbessern. Gefördert wurde insbesondere die Lesemotivation. Ein besseres Leseverständnis erfordert jedoch mehr individuelle und differenziertere Massnahmen.

Ausserfamiliäre Leseförderung bietet Vorteile

Im Fokus Ihrer Studie „Lesen im Tandem“ (2014 bis 2017) steht eine individuelle Förderung: Freiwillige oder Eltern lasen mit leseschwachen Drittklässlern gemeinsam laut in einem Buch. Und dies während rund 20 Wochen, zwei bis dreimal wöchentlich während 15 Minuten. Mit ausserfamiliären Coaches machten die Kinder signifikant grössere Fortschritte. Weshalb?

Wir erklären uns den Unterschied aufgrund des Settings. Die Lesecoaches führten das Training mehrheitlich im Schulhaus durch. Es hatte somit einen offizielleren Charakter. Zudem ist der Lesecoach für das Kind eine „neutrale“ Person, das Konfliktpotential ist weniger gross als mit nahen Bezugspersonen. Wenn es sich zusätzlich um Kinder mit Lernschwierigkeiten handelt, ist die Wahrscheinlichkeit für Ungeduld und Emotionsausdrücke höher. Diese Vermutung hat sich dann auch bestätigt: Unmittelbar nach dem Training befragten wir mehrmals  sämtliche Beteiligten. Dabei kam heraus: Kinder, die mit Lesecoaches übten, hatten sich mehr angestrengt als Kinder, die mit den Eltern übten. Die Lesecoaches wiederum haben sich im Vergleich zu den Eltern während des Trainings wohler gefühlt.

 

In welchem Alter waren die Freiwilligen?

Sie waren zwischen 27 und 75 Jahre alt, rund die Hälfte war pensioniert. Für dieses Projekt haben wir bewusst keine Jugendlichen beigezogen, weil Erwachsene eher in der Lage sind, die Förderbedürfnisse eines Kindes zu erkennen und adaptiv zu reagieren. Wenn es um die Förderung der Lesemotivation geht, können natürlich auch Fünftklässler hilfreich sein, wenn sie Kindergartenkindern vorlesen.

 

Und Männer? Vor allem für Buben wären sie ja wichtige Vorbilder.

Das ist ein wichtiger Aspekt. Es waren auch Männer involviert, vor allem unter den Pensionierten, aber leider nur sehr wenige.

 

War das Training für Kinder mit Migrationshintergrund besonders hilfreich?

Das lässt sich nicht generell sagen, auch diese Kinder bilden eine heterogene Gruppe. Besonders profitiert haben Kinder, die zu Beginn des Trainings schon etwas flüssiger lesen konnten als andere. Die meisten Kinder, die noch mit grundlegenderen Herausforderungen der Dekodierung absorbiert waren, etwa der Buchstabenerkennung, wurden vermutlich bereits im frühkindlichen Alter weniger mit Büchern konfrontiert, in ihrem familiären Umfeld wurde wenig kommuniziert. Die erwähnten Defizite können aber auch aufgrund einer Sehschwäche auftauchen. Hier kann unser Training nicht helfen.

Leseförderung als Chance für neue Generationenbegegnungen

Während den Wochen, in denen gemeinsam gelesen wurde, entstand auch eine Beziehung.

Absolut. Viele Kinder haben auf die konstante Zuwendung einer Person sehr gut angesprochen. Es ergaben sich dabei auch Gespräche über ganz andere Dinge. Es gab Kinder, die mit den Lesecoaches Hausaufgaben gemacht haben, oder mit ihnen zu Mittag gegessen haben. Da sie im selben Dorf wohnen, sind zufällige Begegnungen weiterhin möglich.

 

Waren zwanzig Wochen nicht zu lang?

Gegen Ende wurde eine Ermüdung sichtbar. Bestimmt ist das Training im Winter einfacher einzuhalten, wenn nicht allzu viele andere Aktivitäten anstehen. Aber eine gewisse Intensität und Regelmässigkeit ist wichtig bei solchen Massnahmen. Insgesamt wurde ja nur etwas mehr als elf Stunden trainiert.

 

Welche Texte eigneten sich für das Lesetraining?

Das Kind muss sich von Buchinhalt und Cover angesprochen fühlen, wobei das Schwierigkeitsniveau leicht über seinem Leseniveau liegen darf. Während des Trainings lasen die Kinder mehrere Bücher, die sie gemeinsam mit den Eltern oder dem Coach ausgewählt haben. Wir stellten Büchern zur Verfügung, die wir zuvor evaluieren liessen. Es musste ein Fliesstext sein, zusammen einen Comic zu lesen ist schwierig.

 

Worauf sollten Erwachsene besonders achten, die mit leseschwachen Kindern gemeinsam aus einem Buch vorlesen?

Die Kinder sollten beim Lesen Freude haben. Das heisst, das Buch muss sie interessieren, es sollte auch dem Entwicklungsniveau entsprechen. Wer vorliest, sollte darauf achten, dass das Kind den Inhalt des Buches wirklich versteht. Das Kind soll sich dazu äussern können und Fragen stellen. Wichtig ist zudem ein stress- und lärmfreier Kontext, eine positive Atmosphäre.

Leseförderung mit Freiwilligen stärken

Wie könnten noch mehr Kinder von den guten Erfahrungen mit Lesecoaches profitieren?

Es gibt an mehreren Orten in der Schweiz bereits Lesementorinnen und -mentoren, die regelmässig mit Kindern lesen. Vielleicht könnten Schulen vermehrt mit ihnen zusammenarbeiten, sei es im Rahmen eines strukturierten Trainings wie „LiT- Lesen im Tandem“, oder um ihnen einfach einen Zugang zur Bücherwelt zu verschaffen. Auch Firmen könnten sich in der Leseförderung engagieren, indem sie Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, ein Kind eine Zeit lang beim Lesen zu unterstützen. Erfolgreiche Beispiele dazu gibt es in Deutschland.

 

Welche Bedeutung hat Vorlesen allgemein?

Es ist sehr wichtig, vor allem im Kleinkindalter. Die vorlesende Person öffnet ein Fenster zur Bücherwelt, regt die Fantasie des Kindes an, und kann damit sogar auslösen, dass das Kind selber lesen möchte. Das Vorlesen hat auch einen positiven Einfluss auf die spätere Leseentwicklung. Geschichten zu erzählen ist wichtig, auch Hörbücher sind eine gute Form um den Zugang zur Bücherwelt zu vermitteln.

 

Eine Studie aus Deutschland besagt, dass 37 Prozent aller Kinder nie vorgelesen wird, und zwar unabhängig von sozialer Schicht. Was meinen Sie, trifft das für die Schweiz ähnlich zu?

Es gibt keine entsprechenden Zahlen, aber ich habe den Eindruck, das Vorlesen im Vorschulalter ist hierzulande ziemlich gut etabliert. Im Rahmen der Studie „Lesen in Familie und Schule“ (2006-2010) haben wir im Kanton Freiburg über 900 Eltern von Viertklässlern gefragt, wie oft sie ihrem Kind im Vorschulalter vorgelesen haben. Rund 80 Prozent antworteten: „Mehrmals wöchentlich“ oder sogar „täglich“. Nur acht Prozent gaben an, weniger als einmal wöchentlich vorgelesen zu haben.

 

Ein Blogbeitrag der Zürcher Autorin Daniela Kuhn im Auftrag von Intergeneration. Das Interview fand im Januar 2020 statt. 

 

Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Caroline Villiger Hugo forscht zur Leseförderung und ist Leiterin des Schwerpunktprogramms Familie – Bildung – Schule an der Pädagogischen Hochschule Bern. Bei Interesse an Schulungsmaterialien sowie Videos zur Lautlesemethode wenden Sie sich bitte an Frau Villiger via E-Mail: Caroline.Villiger@phbern.ch

Links & Informationen

Generationenverbindende Leseförderungsprojekte auf Intergeneration

Intergeneration stärkt die Generationenbeziehungen und damit auch die Generationensolidarität. Entdecken Sie vielfältige Generationenprojekte auf unserer Plattform.

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