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Covid-Pandemie und Institutionen der Langzeitpflege - schmerzhaftes Lehrstück

Ein Beitrag von Daniela Kuhn

Generationen-Politik & -Dialog , Coronavirus

18. Februar 2022

Die Autorin Daniela Kuhn beschreibt ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen und Überlegungen zum Umgang mit alten Menschen in Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen von 2020 bis heute.

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Rahel Spiess

Seit Beginn der Pandemie begegnet Intergeneration den negativen Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf Generationenbeziehungen und Generationenprojekte mit eigenen Initiativen (zum Beispiel «Pandemietaugliche Generationenprojekte» oder «Projekteliste Social Distancing»). Im Intergeneration-Blog bringen darüber hinaus auch Personen ihre Sichtweisen und Erfahrungen ein, die der Diskussion neue Impulse verleihen. Die Autorin und IG-Blogschreiberin Daniela Kuhn beschreibt im unten stehenden Beitrag ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen und Überlegungen zum Umgang mit alten Menschen in Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen von 2020 bis heute.

„Stell dir vor, Corona wütet und alle Altersheime bleiben offen.“
Im Frühling vor zwei Jahren war der Satz utopisch – heute ist er Realität. Während Mitte Januar 2022 die Ansteckungszahlen landesweit bei täglich über 20’000 Fällen lagen, mussten Angehörige ab 16 Jahren in Stadtzürcher Alterszentren 2-G plus erfüllen (auch Geimpfte benötigen negativen Test, sofern nicht seit mindestens seit 14 Tagen geboostert). Im selben Kanton galt für Besuchende vieler anderer Altersinstitutionen die 2- oder 3-G Regel. Und, ganz wichtig: Im ganzen Kanton konnten und können mobile Bewohnerinnen und Bewohner das Haus jederzeit verlassen. Mit anderen Worten: Das Ausgangs- und Besuchsverbot, das im Frühling 2020 galt, ist gefallen. Plastikbänder, Absperrgitter oder Gitterzäune sind verschwunden.

Das ist eine höchst erfreuliche Entwicklung. Zu verdanken ist sie in erster Linie der Tatsache, dass es inzwischen eine Impfung gibt und sich die grosse Mehrheit der über 80-Jährigen hat impfen lassen. Zudem verfügen wir heute über Masken und Tests. Die Immunität ist inzwischen auch in der restlichen Bevölkerung sehr hoch und seit Neuen haben wir es mit einem Virus zu tun, das insofern weniger gefährlich ist, als schwere Verläufe seltener auftreten.

„Wir versuchen, unseren Bewohnerinnen und Bewohnern so viel Normalität wie möglich zu bieten“, sagte mir heute, am 18. Januar 2022, eine Mitarbeiterin des Altersheims, in dem meine Mutter lebt. Konkret: 3-G-Regel trotz täglichen Ansteckungszahlen von rund 30’000.

Im vorletzten oder letzten Jahr hatte es anders geklungen, damals hatte die Devise gelautet: Vermeidung des Virus als oberste Maxime, koste es (an psychischem Leid) was es wolle. Die Massnahmen waren rigid, wer eine wirklich nahe Beziehung gelebt hatte, wer seine Frau täglich besucht oder die Mutter jede Woche gesehen hatte, war verzweifelt.

Auch mich verletzte und verstörte die gewaltsame Trennung von meiner Mutter während der ersten Welle zutiefst. Nie werde ich die sogenannte Besucherbox vergessen, vor der eine Pflegerin Wache stand, um zu verhindern, dass wir einander umarmten. Wie meine Mutter beim Abschied vor der Plexiglaswand salutierte und zu mir sagte, sie wolle keine angedeutete Küsse: „Das tut nur weh.“

Ja, das Besuchs- und Ausgangsverbot raubte mir den Schlaf. Dabei hatte ich im Nachhinein betrachtet noch Glück gehabt: Ich hatte keine Mutter, die einsam und verlassen im Sterben lag, ich musste nicht darum kämpfen, mich im allerletzten Moment noch kurz von ihr verabschieden zu dürfen.

Meine 84-jährige Mutter war körperlich gesund, wir unterhielten uns täglich per Skype. Dennoch erlebte ich Szenen, die ich bisher nur aus Filmen oder Büchern kannte. Als ich im Frühling 2020 beispielsweise vor dem 2-Meter hohen Gitterzaun stand, hinter dem sich das Altersheim verbarrikadiert hatte, fragte meine Mutter den Sicherheitsbeauftragten, ob ich vor das Gitter stehen dürfe, damit sie mich besser sehen könne. Meine Mutter hat eine Makula-Degeneration, mit dem Abstand von rund vier Metern sah sie mich nur schlecht. Die etwa 20 Zentimeter, die ich vor dem Gitter näher gestanden wäre, hätten optisch kaum etwas verbessert, menschlich aber hätten sie viel bedeutet. Der Wachmann antwortete: „Tut mir leid, ich habe nur die Erlaubnis, Mitarbeitende hier hineinzulassen.“ Ende der Durchsage. Und Ende des selber Denkens.

Letzterer Punkt beschäftigte mich besonders. Über Nacht waren Gesetze und Regeln etabliert worden, die nicht mehr hinterfragt wurden. Nur noch das Überleben schien einen Wert zu haben, die Qualität des Lebens interessierte nicht. Dabei haben gerade hochbetagte Menschen nicht mehr unendlich viel Zeit; die Qualität der verbleibenden Tage ist für sie deshalb noch wichtiger als für die mittlere Generation. Und nun warfen gerade diejenigen Frauen und Männer, deren Beruf in normalen Zeiten darin besteht, dieser Altersgruppe ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen, ihr gerontologisches Wissen über Bord. Alle liessen sich einzig und allein von der Angst leiten, von der Angst, es würden viele alte Leute sterben. Organisationen wie Pro Senectute oder Curaviva gingen auf Tauchstation. Angehörige, die sich verzweifelt an sie wendeten, wurden am Telefon mit dem Verweis auf die Regeln des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) abgewimmelt.

Zweifellos: Wir wissen heute mehr über das Virus, wir haben Impfung, Masken und Tests. Dennoch konnte man bereits damals gewisse Massnahmen als unnötig hart und sinnlos erkennen. Aber während dieser ersten Phase hatte niemand die Courage, sie in Frage zu stellen oder sich gar gegen sie zu wehren. Nur ganz wenige Mitarbeitende von Pflegeinstitutionen hörten auf ihr Herz, besannen sich auf ihr berufliches Ethos. Aber es gab sie, die Pflegerin, welche die Bewohnerin im Rollstuhl an einen Ort schob, wo sie den Sohn zumindest für ein paar Minuten sehen und sprechen konnte, den Pfleger, der die Tochter während 45 anstatt 15 Minuten mit Maske ins Zimmer ihres Vaters liess. Zivilcourage war leider schon immer eine äusserst rare Eigenschaft.

In der NZZ war kürzlich ein Artikel von Adriano Mannino zu lesen, in dem der Philosoph Fragen im Zusammenhang mit verschiedenen Formen von Triage erläutert. Er endete mit den Worten: „Die Pandemie hat die Gesellschaft kalt erwischt: Es fehlten nicht nur die Maskenvorräte, sondern auch die Denkvorräte, gerade in ethischen und rechtlichen Fragen.“ Der Satz trifft auch auf das Besuchs- und Ausgehverbot in Heimen zu.

Als diese Institutionen endlich, wenn auch zu spät, wieder geöffnet wurden, beschloss ich, festzuhalten, was in den letzten Monaten geschehen war, Bewohnende und Angehörige nach ihren Geschichten zu befragen. Von der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter erhielt ich mehrere Kontakte innerhalb der Deutschschweiz. Freundinnen und Freunde vermittelten mir auch Personen im Tessin und in der Romandie, die bereit waren, mich zu treffen. Während des ganzen Sommers war ich unterwegs. Ich hörte 17 Geschichten.

Meine Reportage endete im Tessin. Der ehemalige Wirt, der im Altersheim im Maggiatal lebte, war in diesen ersten Septembertagen 2020 noch immer eingesperrt. Der Direktor des Heims verbot ein Treffen mit mir. Peter Müller und ich mussten uns von seinem Balkon, respektive vom Strassenrand aus unterhalten. Seit über einem halben Jahr waren die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hauses gezwungen, auch im Garten Maske zu tragen.

Jede Erzählung hat mich bewegt, zeigte mir, wie notwendig es ist, dieses düstere und hoffentlich lehrreiche Kapitel der Schweizer Geschichte festzuhalten. Denn es waren nicht nur aufwühlende Einzelfälle, auffallend waren vor allem die Parallelen. Die Absurdität der Massnahmen stach in allen Berichten ins Auge. Beispielsweise wenn eine Tochter gehindert wurde, die demenzerkrankte Mutter mit desinfizierten Händen zu berühren. Etliche Angehörige sagten, schlimmer als der Tod sei die Trennung gewesen; die hochbetagte Mutter dürfe an Corona sterben. Etwa Jeannine Schälin, die meinte: „An etwas muss sie sterben, aber bis dann soll ihr Leben würdevoll sein.“

Das Buch erschien Ende November 2020. Ein paar Wochen später vernahm die Welt die Nachricht, es gäbe nun eine Impfung. Die zweite Welle war inzwischen auf ihrem Höchststand angelangt, im Heim, in dem meine Mutter lebt, starben mehrere Personen an Covid-19. Die so gut geschützten Altersheime waren zu höchst gefährlichen Orten geworden – meist wurde das Virus über das Personal eingeschleppt. Meine Mutter wohnte in dieser Zeit bei mir, während sechs Wochen. Da ich alleine lebe, war sie in meiner Wohnung weitaus geschützter.

Im Rahmen meiner Reportage lernte ich auch Settimio Monteverde kennen, der sich als Medizinethiker an der Universität Zürich vehement gegen das Ausgeh- und Besuchsverbot gewehrt hat. Vor ein paar Wochen, am letzten Tag des vergangenen Jahres, sagte er mir am Telefon: „Nein, für mich ist es ist noch nicht gut. Noch kein einziges Heim hat bisher erklärt, es werde nie mehr schliessen. Solange dies hierzulande nicht der Fall ist, kann alles immer wieder passieren.“ Ich hoffe sehr, seine Worte seien allzu pessimistisch. Wissen tue ich es nicht.

Weiterführende Informationen

  • Daniela Kuhn: Eingesperrt, ausgeschlossen, Besuchs- und Ausgehverbot in Heimen: 17 Bewohner und Angehörige erzählen, Limmat Verlag 2020
  • Webseite von Daniela Kuhn
5 Kommentare

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    Sehr spannend und ich kann mich den Anregungen von Frau Erb nur anschliessen, in der Hoffnung, dass man die relevanten Schlüsse und Lehren aus dieser für alle Beteiligten bestimmt sehr herausfordenden Zeit ziehen kann. Dies institutionell aufzugleisen über kantonale Einrichtungen und kommunale Organisationen, wäre sinnvoll und wäre durch den staatlichen Betreuungsauftrag ja auch gesetzlich abgedeckt.

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