Demografischer Wandel: Erstmals vier Generationen in Kontakt miteinander
Wissenschaft & Generationenforschung
15. April 2015
Julian Germain aus seiner Serie "Generations"
Der demografische Wandel prägt die Gesellschaft
Die neuen „Bohnenstangenfamilien“ haben weniger Kinder und doch stört der Kinderlärm die Gesellschaft. Schuld ist der demografische Wandel. Das Phänomen der „Bohnenstangenfamilie“ ist neu: Erstmals teilen sich vier Generationen eine längere gemeinsame Lebensspanne. Gleichzeitig haben diese Familien weniger Kinder und Enkel. So gehören für viele junge Erwachsene inzwischen die Grosseltern und die Urgrosseltern zum Teil ihres Familienlebens, während Geschwister, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen in viel geringerer Anzahl als noch vor 50 Jahren vorhanden sind. Dadurch gewinnen schon – mangels Alternativen – der Dialog und die Bereitschaft zur Solidarität zwischen den Generationen in der direkten Nachkommenschaft an Bedeutung. Diese Wirkung des demografischen Wandels ist vielen noch nicht bewusst geworden.
Der Soziologe Klaus Preisner von der Universität Zürich bestätigt dieses Resultat des demografischen Wandels: Es sei „geradezu erstaunlich“, wie viele Menschen wöchentlich Kontakt mit ihren Eltern oder Kindern hätten und zu gegenseitiger Unterstützung über die Generationen bereit seien. Dies habe seine Gründe im intensiveren Kontakt zwischen den Generationen: „Man hat weniger Geschwister, deswegen spricht man mehr mit Mutter und Vater, mehr mit Tochter und Sohn.“
Demografischer Wandel bringt „Erwachsene Welten“ ohne Kinder
Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft, so Preisner, durch den demografischen Wandel merklich stiller geworden: In Ländern mit einem hohen Anteil an jüngeren Menschen sei das Leben weit lebhafter und lauter als in der Schweiz und den Nachbarländern. Das führt laut Preisner zu Unverständnis und Konflikten: „In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr erwachsene Welten, in denen Erwachsene gerne alleine und ungestört sein wollen: Im Schwimmbad, im Restaurant, in Wohnsiedlungen. Herrschte dort noch vor Jahrzehnten ein konstanter Geräuschpegel, an den man gewöhnt war, wird Kinderlärm heute oft als störend wahrgenommen.“ Weitere Faktoren kommen verstärkend dazu: So hat die Mobilität stark zugenommen. Es ist keine Seltenheit mehr, dass man für eine längere Zeit ins Ausland zieht. Während in kinderreichen Familien die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass zumindest einige Kinder und Enkelkinder in der Nähe wohnen und regelmässig zu Besuch sind, schwindet mit einem Wegzug für Grosseltern und (Enkel-)Kinder auch der alltägliche Kontakt: Die Generationen sehen sich nicht mehr. Auch Scheidungen führen oft dazu, dass Kinder kein gewohnter Teil des Alltagslebens für Erwachsene mehr sind.
Vor allem jüngere kinderlose Erwachsene haben heute weniger Kontaktmöglichkeiten zu Kindern: Bot früher der Nachwuchs der älteren Geschwister oder Cousinen eine erste Möglichkeit, als Babysitterin probeweise Verständnis für Kinder zu entwickeln, fällt das heute oft weg. Es haben wohl noch nie so viele Menschen aller Generationen ein Leben geführt, dass sich stark an ihren eigenen Bedürfnissen und Rhythmen orientiert und in dem Kinder eine sehr kleine bis gar keine Rolle spielen.
Entstanden ist die Bohnenstangenfamilie aus dem demografischen Wandel: Die Alterspyramide hat ihre Form verändert: Waren um 1900 die jungen Jahrgänge noch am stärksten vertreten, wird heute ihre Basis immer schmäler. Zudem nehmen die Jahrgänge über 65 durch die geburtenstarken „Babyboomer“ zu. Die Gründe dafür liegen in den geringeren Geburtenzahlen, in einer späteren Elternschaft und in der längeren durchschnittlichen Lebenserwartung. Soziologen reden von der „Alterspflaume“.
Generationenprojekte als Antwort auf den demografischen Wandel
Generationenprojekte antworten auf den demografische Wandel, sie entwickeln u.a. neue Angebote für Bedürfnisse aller Generationen, die mangels familiärer Alternativen sonst unerfüllt blieben. Ein Beispiel sind Patenschaftsprojekte, die Kindern und Erwachsenen ausserhalb ihrer Familien Gelegenheit geben, eine alternative Form des „alltäglichen Familienlebens“ miteinander zu pflegen, siehe die beiden Generationenprojekte „mit mir“ und „Patengrosseltern“. Wir dürfen gespannt sein, welche intergenerativen Lösungen für die Bohnenstangenfamilie und andere Phänomene des demografischen Wandels noch gefunden werden, welche die Generationen verbindet.
Falls Sie solche Generationenprojekte kennen oder gerne daran teilnehmen möchten, dann melden Sie sich bitte bei der Plattform Intergeneration unter Kontakt.
Ein Blogbeitrag zum demografischen Wandel von David Eugster
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