Die Schweiz: Ein einig Volk von Rentner:innen
Ein Beitrag von Anne-Sophie Keller
Wissenschaft & Generationenforschung , Generationen-Politik & -Dialog , Kommunikation & Medien
8. September 2023
Pensionierte sind an der Urne übervertreten. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn die Alten über die Zukunft aller bestimmen? Wie können die Jungen besser miteinbezogen werden? Politologin Cloé Jans fordert mehr Solidarität und mehr junge Vorbilder.
Die Schweiz wird immer älter und somit auch das Durchschnittsalter der Stimmbevölkerung. Gleichzeitig geht nur ein Drittel der Jungen an die Urne. Statt einer Demokratie sieht es hierzulande also bald eher nach einer Gerontokratie aus – einer Herrschaft der Alten. Was bedeutet es, wenn sich die Jungen in der Politik nicht mehr repräsentiert fühlen und von den Alten überstimmt werden? Sind Ideen wie Stimmrechtsalter 16 die Lösung? Die Politologin Cloé Jans ordnet ein.
Cloé Jans, sind die Jungen wirklich so politikverdrossen, wie man sagt?
Bei der institutionalisierten Politik ist das leider so: Der durchschnittliche Urnengänger – ich verwende bewusst die männliche Form – ist 58 Jahre alt. Aber es gibt auch die weniger institutionalisierte Politik wie Demonstrationen, wo die Jungen sehr engagiert sind. Mit Blick auf die Klimakrise oder die Rechte von queeren Menschen haben die Jungen die etablierte Politik in den letzten Jahren vor sich hergetrieben und wichtige Themen gesetzt. Aber diese Art der politischen Partizipation braucht viel Ressourcen und das richtige Setting.
Dass die Jungen weniger abstimmen, war ja schon immer der Fall.
Genau, die Stimmbeteiligung beträgt seit langem um die 30 Prozent. Aber es kommt enorm auf die Themen an. Wenn es die Jungen betrifft, gehen sie häufiger an die Urne – so zum Beispiel bei der Ehe für alle. Wir haben für den easyvote-Politikmonitor Schüler im Alter von 15 bis 25 Jahren befragt. Viele denken, Politik habe keinen Bezug zum Alltag und die Alten würden sowieso alles bestimmen. Für 30 Prozent ist das Grund genug, nicht abstimmen zu gehen. Trotzdem bleiben 70 Prozent, die finden, man könne mit politischer Partizipation die Zukunft mitbestimmen.
Warum richten sich nicht mehr Vorlagen an Junge?
Eine Politik für die Zukunft ist kostspielig und aufwändig. Aus politischem Opportunismus sind kurzfristige Gewinne, die sich an den Interessen der Urnengänger:innen orientieren, effizienter. Konkret: Wenn der Grossteil der Wähler:innen also noch ein Auto fährt, macht man fossile Brennstoffe kaum teurer.
Ist es denn fair, wenn ältere Menschen über eine Zukunft bestimmen, die sie nicht mehr langfristig betrifft?
Fair oder nicht, ist eine müssige Diskussion. Im Gegenzug könnte man sagen, dass sie mehr Lebenserfahrungen oder einen breiteren Entscheidungshorizont haben. Wäre es fair, nur Eltern über die Elternzeit abstimmen zu lassen? Nein, weil ja alle dafür bezahlen müssen. Grundsätzlich sind wir ja immer alle betroffen. Es ist darum so wichtig, wohlwollende und solidarische Entscheidungen zu treffen über Dinge, die einen nicht betreffen. Man kann Betroffenheit auch nicht immer antizipieren. Vielleicht hat man morgen einen Unfall und ein grosses Interesse daran, dass man genug IV-Beträge erhält. Schon deswegen lohnt sich Solidarität.
Wird unser Stimmverhalten allgemein immer egoistischer?
Im aktuellen Credit Suisse Sorgenbarometer gaben zwei Drittel der Befragten an, dass die sinkende Solidarität ein Problem für unsere Identität sei. Aber wenn man konkret nachfragt, beispielsweise ob die Rücksichtnahme auf die Älteren während der Pandemie wirklich ein Problem war, sieht die Sache schon nicht mehr so schlimm aus. Das sind oft einfach Mediengeschichten. Die Frage ist daher schwierig zu beantworten. Man muss auch zwischen Diskurs und Verhalten unterscheiden. Die politische Polarisierung führt zumindest in der Kommunikation dazu, dass man Gruppen vermehrt gegeneinander ausspielt. Aber wie stark sich das im realen Verhalten ausdrückt, finde ich schwierig zu sagen. Umfragen zeigen, dass die Älteren zum Beispiel ein sehr hohes Bewusstsein für Nachhaltigkeitsfragen haben. Es ist ihnen also nicht egal, wie sie die Welt hinterlassen. Da sind eher die Millennials das Problem.
Also Ihre und meine Generation. Warum?
Meine Generation wurde wenig politisiert. Zwischenjahre einlegen, ein bisschen reisen gehen, sich selbst verwirklichen – all das passierte mit einer grossen Selbstverständlichkeit. Die Welt war in unserer Kindheit und frühen Jugend vergleichsweise sicher – zumindest was die grossen globalen Gegebenheiten und die westliche Welt anging. Wir sind aufgewachsen mit der Vorstellung, dass jede Generation auf dem Erreichten der Eltern aufbauen kann. Wir konzentrierten uns darum vor allem auf uns selbst. Mein prägendstes Politerlebnis im Gymi waren die Irak-Proteste. Aber da hatten wir trotz allem noch das Gefühl, dass sei ein Einzelfall und kein strukturelles Problem. Die Generation nach mir sieht das in der Tendenz schon anders. Aber auch sie ist keine homogene Masse. Klar gibt es den progressiven Klimastreik – aber es gibt etwa in den Berufsschulen auch konservative Backlashes.
Wie kann man die jüngere Generation politisch stärker miteinbeziehen?
Man muss aufzeigen, dass Politik sie auch betrifft. Als junge Person hast du noch keine Hypothek, noch weniger Erfahrung im Gesundheitssystem und zahlst oft noch keine Steuern. Darum sind viele Vorlagen sehr weit weg von deinem Alltag. Bei der Durchsetzungsinitiative gab es eine Kampagne mit dem Slogan “Dein Kollege Said hat eine Parkbusse erhalten, jetzt wird er ausgeschafft” – da haben viele Junge begriffen, dass es sie eben auch betrifft. Oft ist es aber nicht ganz einfach, aufzuzeigen, welche Folgen politische Entscheide für eine Generation haben.
Was halten Sie von einer nationalen Strategie zur politischen Bildung?
Es gibt so viele Leute, die keinen Zugang zu Politik haben – auch weil dieser oft innerhalb der Familie weitergegeben wird. Politische Bildung ist also enorm relevant. Ein bisschen Staatskunde reicht nicht. Man muss die Relevanz und auch die Zusammenhänge verstehen können. Die Anzahl Leute, die die politische Bildung in der Schule als gewinnbringend einstufen, nimmt ab. Sie ist im Lehrplan 21 zwar ein Thema, aber es gibt keine wirkliche Strategie, die greift.
Sind Ideen wie das Jugendparlament oder das Stimmrechtsalter 16 die Lösung?
Ich finde solche Ideen enorm wichtig. Man muss kontinuierlich an der Demokratie arbeiten, Neues ausprobieren und daraus lernen. Aber keine dieser Lösungen ist ein Allheilmittel. Was man aus der Genderforschung weiss: Vorbilder helfen. Wenn man sieht, dass andere Junge politisch aktiv sind – als Parlamentarier:innen oder Leuchtfiguren von Bewegungen – dann motiviert das zur Partizipation. Und darum wäre es wichtig, dass nicht nur das Alter an der Urne, sondern vor allem auch das Alter im Parlament sinkt.
Cloé Jans (37) ist Politologin sowie Leiterin operatives Geschäft und Mediensprecherin von gfs.bern.
Weiterführende Literatur:
- Swissvotes ist die umfassendste Datenbank zu den Schweizer Volksabstimmungen. Sie finden auf der Website zahlreiche Informationen zu allen eidgenössischen Volksabstimmungen seit 1848: https://swissvotes.ch/page/home
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