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Kinder lernen mit Freiwilligen lesen - Leseförderung als Zukunftsmodell?

Traditionell liegt Leseförderung in der Verantwortung von Elternhaus und Schule. Ausserschulischer Leseförderung durch sogenannte Tutoren und Tutorinnen wird jedoch wenig Beachtung geschenkt. Im Interview gibt Elternverbandspräsidentin Gabriela Heimgartner Auskunft, weshalb gerade familien- und schulexterne Förderung durch Freiwillige aller Generationen viel Potenzial birgt.

Grandmother Reads A Book To Her Granddaughter In The Library

Foto iStock

 

Gabriela Heimgartner, Präsidentin des Vereins Schule und Elternhaus Schweiz, fordert im Interview anlässlich des Schweizer Vorlesetages mehr Offenheit für einen Ausbau der ausserschulischen Leseförderung. Intergenerationelle Leseförderprojekte mit Freiwilligen aller Generationen könnten dabei einen wichtigen Beitrag leisten, aber bisher konzentrierte sich die schweizerische Leseförderung traditionell vor allem auf Elternhaus und Schule. Wird hier eine grosse Chance noch zu wenig genutzt?

 

Ein Viertel der 15-jährigen Schüler und Schülerinnen erreichen in der Schweiz laut der aktuellen PISA-Studie der OECD von 2022 nicht das notwendige Leseniveau, um Alltag und Beruf eigenständig bewältigen zu können. Wie schätzen Sie dieses Ergebnis als eine Vertreterin von Eltern ein?     

Als älteste Elternorganisation ist der Verein Schule und Elternhaus über das wiederholt schlechte Pisa-Ergebnis im Lesen sehr beunruhigt. Es gibt einerseits Kinder, bei denen im Elternhause schon von klein auf viel und gerne vorgelesen wird, und das Lesen im Familienalltag eine wichtige Rolle spielt. Es gibt andererseits aber auch Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien, Familien mit anderer Muttersprache oder Kindern mit Leseschwäche, deren Eltern die Kapazität oder das Verständnis fehlt, gemeinsam mit den Kindern regelmässig vorzulesen oder Lesen zu üben. Für diese benachteiligten Kinder ist es entscheidend, dass sie passende Unterstützung zur Förderung der Lesekompetenz erhalten. Sonst können sie dem Schulunterricht nicht folgen und entwickeln später zusätzlich Schwierigkeiten in anderen Fächern, da Lesen eine Voraussetzung für Mathematik, Biologie, Geschichte oder Fremdsprachen darstellt. Auch ist die soziale Teilhabe der Kinder gefährdet, da das Unvermögen zu lesen, ausschliessend wirkt. Weiter müssen diese Kinder oft viel Kraft und Energie verwenden, diesen Umstand vor Dritten zu verbergen. Das Risiko, dass die Schule zum täglichen Albtraum für diese Kinder und nur noch mühsam und widerwillig ertragen wird, steigt mit jedem Schuljahr.

 

Mit der wachsenden Diversität der Kinder in den Klassenzimmern wird es für Lehrpersonen immer schwieriger, den individuellen Bedürfnissen von allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. In wissenschaftlichen Studien und Leseförderprogrammen wird deshalb das sogenannte Tutoring, das Lernen und Üben mit Hilfe von ausserschulischen Freiwilligen (sogenannten Tutoren und Tutorinnen), in Tandems oder Kleingruppen diskutiert. Wie sehen Sie diese internationale Bewegung, Elternhaus und Schule bei der Leseförderung familienextern zu unterstützen?     

Wir wünschen uns den Ausbau der ausserschulischen Angebote und sehen darin eine grosse Chance für alle – auch für die Leseförderung innerhalb der Schule. Jedoch gibt es einige wesentliche Kriterien, um eine wirksame Leseförderung zu erreichen. Einerseits sollte diese niederschwellig und nah sein. Es wäre von Vorteil, wenn Leseförderung durch ausserschulische Akteure am besten im Schulgebäude und im Anschluss an den Unterricht angeboten wird. Meist wird es schwieriger, wenn Kinder in der Freizeit extra an einen anderen Ort müssen. Findet Leseförderung ausserhalb der Schule statt, ist es sinnvoll, wenn die freiwillig engagierte Person nicht nur beim Lesen hilft, sondern gerade sozial benachteiligte Familien auch in anderen Bereichen unterstützt. Zum Beispiel wie ein Grosi-Ersatz.

Andererseits ist es wichtig, dass Leseförderung mit einem bewährten Förderkonzept erfolgt, eine gewisse Konsistenz aufweist und sich individuell dem Niveau des Kindes anpasst. Das gleiche gilt auch für das ausgewählte Lesematerial. Kurz gesagt: Eine Eins-zu-Eins Leseförderung ist am wirksamsten, wenn Setting, Material und Niveau individuell auf das Kind abgestimmt werden.

Bewährte Projekte wie «Generationen im Klassenzimmer» oder Lesetandems in Bibliotheken bieten diese Möglichkeit. Solche Projekte könnten aber noch umfassender und flächendeckender in allen Kantonen eingesetzt werden, um die PISA-Ergebnisse effektiv und bald verbessern zu können.

Hinzu kommt das Kriterium, dass Leseförderung zugänglicher werden sollte. Kinder und Eltern, welche Unterstützung brauchen, haben oft keinen Zugang zu bestehenden Angeboten. Ich sehe die Verantwortung bei den Schulen, Familien zu informieren und auf ausserschulische Leseförderung hinzuweisen.

 

Weitere Links, Leseförderung Schweiz:

Generationenprojekte

Wissenschaftliche Studien und Leseförderprogramme:

Gabriela Heimgartner

Gabriela Heimgartner ist Präsidentin des Vereins Schule und Elternhaus Schweiz und ist selbst als Lerncoach tätig.

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